Milch
Immerhin schneit es nicht. Vier Worte, fünfundzwanzig Zeichen, die Liv vor der Kälte abschirmen, während sie sich durch die beißende Islandbrise kämpft, die Hände in den Taschen des Parkas vergraben, die Augen hinter der Sonnenbrille zu Schlitzen zusammengekniffen. Der Segensspruch des Tages stammt von Aaron, übermittelt per SMS als ebenso prompte wie lakonische Antwort auf ihren ausführlichen Wetterbericht. Unglaublich: Sie ist im Ausland und kommuniziert auf eigene Initiative mit ihrem halbwüchsigen Sohn – und es gefällt ihr sogar. Geradezu beschwingt betritt sie die nächste Boutique, um ihm ein Geschenk zu kaufen. Ein minimalistisch eingerichteter Laden, ruhige elektronische Musik, blasswangiges, noch ruhigeres Personal. Sie entscheidet sich für eine Fließkapuzenjacke in Schwarz-Anthrazit mit orangefarbenen Kordeln, zum einen, weil ihr in der Stadt schon etliche Jugendliche mit Kleidern dieser Marke begegnet sind, zum anderen, weil das prächtig überteuerte Stück Stoff »Ulfur« heißt, was Wolf bedeutet, wie die Verkäuferin ihr erklärt. Sie denkt, sie hofft, das könnte Aaron gefallen.
Als sie wieder hinaus ins Freie tritt, treibt der Wind ihr zarte, eiskalte Daunen ins Gesicht: Schnee. Ungläubig legt sie den Kopf in den Nacken und lässt sich berieseln. Eben hat noch die Sonne geschienen.
Der Himmel über Liv ist zweigeteilt: Das helle Blau wird nach und nach von einer Wolkenfront verdrängt, eine dickflüssige Erscheinung, schwarz wie Pech, zäh wie gerinnendes Blut.Viel Blut. Eine Blutlache auf Asphalt, kein Zweifel, Liv erkennt den Umriss wieder, und eine längst vergessen geglaubte Erinnerung packt sie wie ein Alptraum mitten am Tag: Sie ist elf, und sie hat einen ziemlich großen Hund, einen Afghanen-Mix, den sie wegen seines vornehmen Gehabessiezt, Herr Konradi. Die distanzierte Anrede täuscht jedoch, es ist ein sehr inniges Verhältnis, von Harmonie geprägt.Außer an diesem Nachmittag, da haben sie Streit, und zwar um einen roten Turnschuh, Markenware, brandneu. Sie verlieren beide die Kontrolle über sich, Herr Konradi zuerst. Er beißt Liv in die Hand, nicht allzu schlimm, aber es schmerzt doch, worauf sie ihn mit einem Tritt in den Garten hinausbefördert, was eigentlich tabu ist ohne Aufsicht und Schleppleine, denn Herr Konradi ist eine Jägernatur. Wenn er eine Katze sieht, ist ihm kein Zaun zu hoch. Vermutlich ist der Kater der Nachbarin der Grund, dass er auf die Straße rennt – vor den Lieferwagen einer Bäckerei. Sie hat noch den Schriftzug vor Augen.
Als die Bilder verschwinden und die Wolkenfront sich in das zurückverwandelt, was sie ist, nämlich die Zutat eines Wetterwechsels und nicht mehr, findet Liv sich gegen eine Hauswand gelehnt. Ihr ist übel, der Rauputz in ihrem Rücken fühlt sich erstaunlich warm an, als sei das Haus, das sie stützt, ein lebendiges Wesen. Menschen gehen vorüber, Zeit verstreicht. Wieder mal ein Blick auf die Armbanduhr, aus Ratlosigkeit. Fast zwei. Da sie nicht weiß, wie spät es war, bevor diese merkwürdige Sache passiert ist, bedeutet Liv diese Information im Grunde nichts, ruft ihr aber die Verabredung mit Rúnar ins Gedächtnis. Zum Lunch. Sie wird sich wohl etwas verspäten.
Damit sie den Mut findet, sich von der Wand zu lösen, tasten Livs Augen noch einmal den Himmel ab. Die schwarze Wolke hat jetzt beinahe die Oberhand gewonnen, davor Möwenschwärme in gestochener Schärfe, die weißen Gefieder reflektieren die letzten Strahlen der Sonne.
»Ich habe Vögel gesehen, Ragnar«, murmelt sie.
Und noch einiges mehr. Ist es möglich, dass dieser verrückte Elfenkundler mit seinen esoterischen Anwandlungen sie nachhaltig durcheinandergebracht hat? Oder ist etwa immer noch der Wodka schuld? Die Helligkeit? Dieses eigenartige Land? Was es auch ist, Liv erkennt sich selbst kaum wieder. Wenigstens wirkt die kalte Luft belebend, und die Übelkeit verfliegt bereits nach wenigen Schritten.
Das Kaffi Sólon ist leicht wiederzufinden, dort, wo die Einkaufsmeile Laugavegur in die Bankastræti mündet, gegenüber geht es hoch zur Hallgrimskirche. Tagsüber ist die Bar mit den hohen dunklen Wänden ein Bistro, gut besucht, aber nicht annähernd so vollgestopft mit Menschen wie in der Nacht zuvor, als sie und Rúnar sich hier am Wein und aneinander beduselten.
Er erwartet sie bereits, in das Studium einer Partitur vertieft. Dass er wieder denselben Tisch im hinteren Teil des Lokals gewählt hat, irritiert Liv anfangs. Er steht auf und rückt ihr den Stuhl zurecht, Wangenküsse zur Begrüßung, das Kratzen seiner Bartstoppeln. Beim Hinsetzen stößt sie sich am Tischbein wie schon mehrfach im nächtlichen Durcheinander, immer dieselbe schmerzempfindliche Stelle an der linken Kniescheibe. Es muss am Mobiliar liegen. »Alles klar mit dir?«, fragt Rúnar.
Liv nickt und reibt sich das Knie. Verstohlene Spurensuche: Nein, die Tischplatte klebt nicht mehr, alles blankpoliert. »Willst du etwas essen?« Erneutes Nicken.
Er räumt die Noten weg und schlägt die Speisekarte für sie auf. Sie bestellen Lachs-Canapes, seine Wahl, und auf ihren Wunsch Lasagne, dazu Wasser.
Sie überlegt, wie es mit ihnen weitergehen könnte.
Rúnar fragt sich das offenbar auch: »Und?«
Woher soll sie die Antwort wissen? Gestern war gestern. Heute ist ein neuer Tag am selben Ort mit denselben Protagonisten. Liv kann nur für sich sprechen: Sie will ihn immer noch.
Er will eine Antwort,und er sieht nicht aus wie jemand, der gern wartet.
»Was soll ich sagen? Keine Ahnung. Sag du es mir.« »Bitte?« Er legt den Kopf schief. »Was genau willst du wissen?« »Wie es auf dem Amt war.«
Liv merkt, wie sie rot wird. Was ist nur in sie gefahren? Sie benimmt sich wie ein Teenager. Oder besser: so wie sie sich als funktionsfähiger Teenager hätte benehmen sollen, aber damals legte sie ja viel zu viel Wert darauf, cool zu sein und etwas von der Welt zu sehen.
»Liv?«
»Ja ... alles okay. Also, nicht okay. Der Beamte konnte mir überhaupt nicht weiterhelfen.«
Sie hat Mühe, ihm in die Augen zu sehen. Draußen auf der Laugavegur graue und schwarze Geländewagen im Schneetreiben, Stoßstange an Stoßstange.
Rúnar ergreift ihre hellen Hände mit den Sommersprossen und reibt sie zwischen seinen dunklen.
»Kalt«, sagt er. » Bist du lange durch den Schnee gelaufen? Dein Haar ist nass.«
Sie zuckt mit den Schultern. Wieder durchfährt sie dieses eigenartige Gefühl, als würde seine Haut Bestandteil ihrer eigenen sein, als könnte sie mühelos seine Finger steuern, wenn sie sich nur ein wenig mehr darauf zu konzentrieren wüsste.
»Spürst du das? «, flüstert sie.
»Was?«
In weiser Voraussicht verzichtet sie auf die Antwort. Bloß keine Liebesschwüre. Sie muss sich jetzt zusammenreißen, will sie nicht das alte Spiel mit vertauschten Rollen spielen.
Stattdessen holt sie ihr Handy aus der Jackentasche. »Ich muss unbedingt eine SMS an meinen Sohn schreiben. Er soll wissen, dass es schneit.«
Rúnar wirkt irgendwie erleichtert.
Sie plaudern, bis die Canapés gebracht werden und kurz darauf auch die Lasagne. Beides schmeckt ihr, der Lachs ganz besonders. Soweit Liv sich entsinnen kann, war der Wein am Abend auch recht ordentlich.
»Angenehmer Laden«, sagt sie, und Rúnar stimmt ihr zu.Ansonsten verläuft das Essen schweigend.
Danach geht er noch einmal auf ihr Treffen mit dem Mann vom Ordnungsamt ein. »Was genau hat der Beamte denn gesagt?«
»Dass er mir mit den Daten aus seinem Computer ohne Sozialversicherungsnummer nicht weiterhelfen kann. Und dass Inga Engel möglicherweise ihren kompletten Namen beziehungsweise ihre Identität geändert hat, weil uns auch das Geburtsdatum nichts genützt hat.«
Er überlegt. »Das könnte natürlich sein.Soweit ich weiß, sind die Angaben der deutschen Einwanderinnen bei der Visavergabe nicht allzu genau überprüft worden. Das wäre ja auch gar nicht möglich gewesen. Schließlich war es relativ kurz nach dem Krieg, manche waren als Flüchtlinge aus dem Osten gekommen und hatten überhaupt keine Papiere mehr.«
Liv ist überrascht: »Du scheinst dich ja ziemlich gut mit dem Thema auszukennen.«
»Geht so. Ich spiele als Organist nicht nur in der Hallgrimskirche, sondern reise auch viel im Land herum. Besonders anfangs in meinen Lehrjahren als Assistent des alten Kantors, bevor ich zu studieren begann. Viele der Frauen aus Deutschland sind oder waren in den Kirchenchören aktiv. Es gibt unglaublich viele Chöre auf dem Land. Die Neuankömmlinge waren von Anfang an sehr gefragt, viele hatten in der Heimat eine gute musikalische Ausbildung genossen.«
»Du kennst also manche dieser Frauen persönlich?«
Rúnar nickt. »Einige. Deswegen habe ich dir ja meine Hilfe angeboten.«
»Stimmt es, dass viele nicht über ihre Vergangenheit reden wollen?« »Leider ja.«
Sie entwerfen eine Strategie für die nächsten Stunden und Tage. Rúnar verspricht, diverse Telefonate zu führen. Er sagt, er kenne jemanden beim Flughafen mit guten Kontakten zu Icelandair und anderen Gesellschaften, möglicherweise, so seine Hoffnung, könnte da jemand für ihn nachschauen, ob sich unlängst ein Passagier namens Tönges Engel an Bord eines Fliegers nach Keflavík befunden hat. Ferner will er bei einigen befreundeten Diakonen in abgelegenen Kirchengemeinden vorsprechen, um die Suche nach Inga voranzutreiben.
»Was ist mit diesen deutschen Chorsängerinnen? Rufst du die auch an?«
»Mal sehen. Eigentlich wäre es besser vorbeizufahren. Manche wohnen nicht weit von hier im Süden.« »Nimmst du mich dann mit?« »Na, was denkst du denn?«
Er küsst sie.Flüchtig. Wenig später auf der Straße noch einmal ausgiebig. Es schneit jetzt heftig, allerdings schmelzen die Flocken auf dem Gehsteig, nichts bleibt liegen. Die Stadt ist trotz des Wetterumschwungs brechend voll, lauter junge Leute mit prall gefüllten Einkaufstüten, Handys am Ohr. Vor einem Schuhgeschäft steht eine aufwändig geschminkte Frau mit Puppengesicht und Hochsteckfrisur auf einer Trittleiter und putzt das Fenster, dabei trägt sie Pumps mit sehr hohen Absätzen, eine lila Strumpfhose, einen karierten Minifaltenrock und ein kurzes Webpelzjäckchen in Schwarz. Um sie herum wildes Schneegestöber. Liv weiß sofort, es ist dieses Bild, welches ihr fortan sofort in den Sinn kommen wird, wenn sie an Reykjavík denkt.
»Der Mond gleitet, der Tod reitet.« Ihre Wangen brennen von Schlägen. »Fritzi, wach auf.« Sie blinzelt. »Aufwachen.« Wieder eine Backpfeife.
Sie öffnet die Augen ganz und wartet, dass ihr Blick aufklart. Dicht vor ihrem Gesicht schwebt das von Bjarney, nackte Angst, wo sonst Zuversicht erstrahlt.
»Gott sei Dank. Du lebst«, sagt die Freundin.
»Der Mond gleitet, der Tod reitet«, echot Fritzi. »Warst du das eben? Was soll so'n Mist?«
Bjarney nickt. »Bitte verzeih. Es schoss mir in den Sinn, als ich dich eben am Boden liegen sah. Ich dachte schon ...« Sie lässt den Satz offen. Ihre Blicke, erschrocken und tränenschwer, sind eine Qual, auf die Art möchte keine Frau jemals von ihrer besten Freundin angeschaut werden.
Es folgt eine Entschuldigung: »Dein Nachbar hat mich angerufen.«
»Ach der. Der soll sich raushalten. Dem werd ich was.«
»Na, du bist mir eine, hübsch bedanken wirst du dich bei ihm, wenn du wieder auf dem Posten bist. Jetzt trink erst einmal.« Der Versuch, die Stimmung ins Muntere zu kippen, misslingt. Die Nerven liegen blank.
»Trink.« Bjarney stützt mit einer Hand den Hinterkopf der Freundin, mit der anderen hält sie ihr ein Gefäß an die Lippen. Zinkblech. Erschrocken reißt Fritzi den Mund auf, stößt einen Schrei aus, der stumm ist, von der Freundin jedoch trotzdem gehört wird. Die Milchkanne.
»Ganz ruhig, Fritzi.«
Sie will Bjarney am Handgelenk packen, doch dazu fehlt die Kraft. »Woher hast du die?«
»Das ist Milch, die stand vor der Haustür. Zwei Kannen. Der Nachbar hat deine Kühe gemolken.«
»Nein, da stand nichts.«
»Doch, bestimmt.«
»Du lügst.«
»So ein Unsinn. Jetzt trink gefälligst.«
»Nein.« Dieselbe Milch, die sie kurz zuvor noch so sehnlich begehrt hat, hat sich in Gift verwandelt, von dieser Überzeugung ist Fritzi durch nichts abzubringen.
Bjarney nutzt die Schwäche der Freundin aus, um ihr wie eine Krankenschwester wenigstens einige Schlucke einzuflößen, wobei allerdings das meiste danebengeht. Die flinken Hände der Isländerin sind auch nicht mehr das, was sie mal waren.
Man schämt sich voreinander. Doch wozu es aussprechen? Stattdessen jammert und stöhnt Fritzi ohne Unterlass. »Pass auf, du kleckerst mich voll.«
»Wann hast du dich zuletzt im Spiegel angesehen, Fritzi? Die Milch kann es auch nicht mehr schlimmer machen, du bist bekleckert von oben bis unten mit allem möglichen Zeugs, ich will es gar nicht genau wissen. Und du stinkst, meine Liebe. Mit Verlaub, du stinkst nach deiner eigenen Pisse.«
»Ich bin nicht deine Liebe, meine Liebe. Heute nicht. Pfui, mir wird schlecht. Ich sag es dir ja, die Milch ist vergiftet.«
»Dir wird schlecht von der Wahrheit.«
»Der Braune hat meine gute Milch getrunken und mir seine verdorbene dagelassen: Das ist Geistermilch. Hast du ihn nicht gesehen, den Móri? Du musst ihn gesehen haben.« Fritzis Wehklagen ist selbst für ihre eigenen Ohren schwer erträglich, aber irgendetwas hindert sie, damit aufzuhören. Ja, sie weiß schon, sie lässt sich gehen.
»Nein, ich habe den Braunen nicht gesehen. Er ist nicht hier. So ein Quatsch, den du redest. Du bist krank, Fritzi. Ich glaube, du hast Fieber, du brauchst einen Arzt.«
»Nein.« Fritzi heult auf. Ein Weinkrampf bricht aus ihr hervor und macht alles noch schlimmer.
»Du dämliche Alte.« Es dauert nicht lange, und auch Bjarneys Tränen kullern. Vereintes Schluchzen.
Schließlich steht Bjarney auf und geht hinüber zum Telefon. »So, das reicht. Ich rufe einen Krankenwagen.«
»Nein, nein, bitte tu das nicht. Die stecken mich ins Heim. Ich tue alles, was du willst, siehst du, ich trinke sogar die Geistermilch.« Zum Beweis greift Fritzi eigenständig nach der Kanne.
»Das nützt doch nichts auf Dauer. Jetzt ist die Zeit gekommen, vernünftig zu sein. Du hast ja schon Halluzinationen.« Sie nimmt den Hörer in die Hand.
Das sagt die Richtige. Fritzi zieht die Nase hoch, es klingt wie eine Drohung und ist tatsächlich als solche zu verstehen. »Hörzu, Bjarney, wenn du jetzt den Notruf wählst, verfluche ich dich und deine gesamte Sippe, das schwöre ich.«
Bjarney erstarrt. »Ein Fluch? Du willst einen Fluch aussprechen?«
»Jaja, einen Fluch.«
Das Wort wabert durch den Raum, in gleichem Maße lächerlich wie beängstigend, und Fritzi unterdrückt den Impuls, es wieder einzufangen. Bjarney legt den Hörer auf die Gabel zurück und bleibt neben dem Telefon stehen, den Mund halb geöffnet, als wolle sie der Freundin genau dazu Gelegenheit geben.
»Ist das wirklich dein Ernst?«
»Mein voller Ernst. Ich bin eine freie Bäuerin, Isländerin, das hier ist mein Land, davon lasse ich mich nicht vertreiben, und wenn ich jemanden verfluchen will, ist das mein gutes Recht. Was so ein dahergelaufener Wanderer kann, kann ich schon lange.«
Kopfschütteln. »Du solltest dich schämen, Fritzi.« Nach einer Pause fährt Bjarney fort. »Ist gut, du hast gewonnen: Ich werde den Arzt nicht anrufen. Aber denk bloß nicht, ich hätte es mit der Angst bekommen. Ich hätte nicht übel Lust, dich hier deinem Schicksal zu überlassen, aber das werde ich ebenfalls nicht tun, der Anstand verbietet es mir – falls du noch eine Vorstellung davon hast, was das ist. Ich sage dir, was ich tun werde, großherzig, wie ich bin: Ich schicke dir eine Elfe.«
Rúnars Flughafenkontakte erweisen sich als wertlos. Dass er die deutschen Frauen aus seinen Anfangsjahren als Organist kennt, ist hingegen ein Glücksfall. Bereits am nächsten Tag verfügen sie über zwei Einladungen auf Höfe in Südisland, etwa drei Autostunden von Reykjavík entfernt. Da die betagten Gastgeberinnen, seit sechzig Jahren fern der Heimat, ihre Muttersprache nach eigenem Bekunden nicht mehr fließend beherrschen und sich im Englischen überhaupt nicht zurechtfinden, ist sie froh, Rúnar als Übersetzer an ihrer Seite zu haben, falls die Gespräche ins Stocken geraten sollten. Besser hätte Liv es nicht treffen können. Befreit von allen Zweifeln, hat sie plötzlich keinerlei Schwierigkeiten, von einem Unbekannten Hilfe anzunehmen, ihm in dieser Familienangelegenheit vorbehaltlos zu vertrauen, im Gegenteil. Es fühlt sich gut und richtig an. Wieder verbringen sie die Nacht zusammen, eine Selbstverständlichkeit. Nur auf den Kneipenbesuch verzichten sie diesmal.
Früh am Morgen verlassen sie die Stadt in Richtung Südosten, hungrig, aber zu ungeduldig, um im Hotel zu frühstücken.
Ein grauer Tag. Tiefhängende Wolken, hier und da zusammengeschmolzene Reste von Schnee, wie Schimmelpilzbefall. Als die Vororte hinter ihnen liegen, wird es neblig. Eine riesige digitale Anzeigentafel am Straßenrand verkündet den Autofahrern Windgeschwindigkeiten sowie die aktuelle Temperatur: zwei Grad plus. Liv hat angesichts des bedeckten Himmels auf die Sonnenbrille verzichtet. Sie kommt sich direkt entblößt vor.
Sie reden wenig. Nicht nur, weil das Wetter auf die Stimmung drückt. Seit dem Erlebnis vom Vortag kleben Livs Gedanken an der Vergangenheit fest. Sie hatte ja keine Ahnung, wie tief die Sache mit dem Hund sie heute noch aufwühlt. Damals war es ein Schock, sicher, aber was geht sie das heute an? Es verstört regelrecht. Überhaupt ist nicht viel übrig von der lässigen Person, als die sie gern wahrgenommen werden möchte. Es ist nicht länger zu leugnen, sie befindet sich bestenfalls in einer Verwandlungsphase – schlimmstenfalls in einem Prozess der Auflösung. Aarons Einzug, die Scheidungspläne der Großeltern, Tönges' Verschwinden, Max' Wunsch, mit ihr eine Familie zu gründen, und erst recht ihre unerhört empfindsame Reaktion auf all diese Dinge zeigen ihr, dass ihre Welt ins Wanken geraten ist. Wer, zum Teufel, ist sie eigentlich? Ein bislang erfolgreicher Lebensentwurf verliert auf einmal seine Glaubwürdigkeit.
Stabilisierungsversuche. Herr Konradis Tod auf der Straße hat sie zweierlei gelehrt. Erstens: Ihre Wut macht nicht halt vor denen, die sie liebt, sie ist in bestimmten Situationen in der Lage, jedem Lebewesen großen Schaden zuzufügen. Zweitens: Sie ist miserabel in der Bewältigung von Trauer,denn das Ende ihres Hundes hätte beinahe ihr eigenes bedeutet.
In jenem Sommer wird sie kurz vor der Pubertät mehr oder weniger zur Einzelgängerin, was nicht in derart vor sich geht, dass sie einen entsprechenden Beschluss fasst und verkündet, also einen glatten Schnitt macht und infolgedessen Freundschaften und andere Bindungen aufkündigt, es ist mehr eine Abnabelung, ein schleichender Erkenntnisprozess: Sie ist gern für sich. Lieben bedeutet Schmerz. Ihre Frustrationsgrenze ist überaus niedrig, eine Schmerztoleranz so gut wie nicht vorhanden. Ist sie feige? Kneift sie vor dem Leben?
Unsinn, denn dann müsste sie mit ihrer Situation unzufrieden sein, was sie nicht ist, zumindest war sie es bis vor kurzem nicht. Sie mag ihren Beruf, ihre Kollegen, die Firma, die Musik. Sie ist schlicht und einfach eine Einzelgängerin. Ihr Alltag ist meistens nett, nichts Großes, doch immerhin selbstbestimmt, abwechslungsreich und daher alles andere als langweilig. Sie muss aufhören, alles zu hinterfragen. Das bringt sie jetzt auch nicht weiter.
Je länger sie unterwegs sind, desto raumgreifender wird das Schweigen. Es ist ihre erste gemeinsame Autofahrt. Eigentlich eine gute Gelegenheit, sich kennenzulernen. Man sollte etwas reden.
Liv räuspert sich. »Ist es hier sonst schön?«
»Wo? Hier auf der Strecke?«
»Ja, heute sieht man ja fast nichts.«
Rúnar, scheinbar ganz auf seine Aufgaben als Fahrer konzentriert, ignoriert die Frage. »Vielleicht hätten wir doch frühstücken sollen«, sagt er stattdessen.
In diesem Augenblick ist Liv ziemlich sicher, dass der Tag nur misslingen kann.
Ein Kaffee wäre fällig. Sie spricht es aus,und bei nächster Gelegenheit besorgt er welchen.
»Sollen wir frische Luft schnappen? Vielleicht werden wir dann richtig wach.« »Meinetwegen.«
Also steigt sie aus und gesellt sich zu ihm in die Kälte. Nicht lange und die Luft schnappt zurück. Mit dampfenden Plastikbechern stehen sie nebeneinander ans Auto gelehnt und schauen geradeaus. Ein Rastplatz im Nirgendwo. Gefrierender Nebel. Steter Wind. Sicht unter fünfzig Metern. Motorenlärm. Wenn auf der nahen Schnellstraße Lastwagen vorbeifahren, vibriert der Boden unter ihren Füßen.
»Eigentlich müsstest du die Landschaft hier mögen«, greift Rúnar den dünnen Gesprächsfaden auf.
»Meinst du? Wieso?«
»Es ist ein vulkanisches Gebiet mit weiten Lavafeldern, ähnlich wie am Flughafen Keflavík, allerdings noch gebirgiger. Sie heißen die blauen Berge.«
Liv erinnert sich noch gut an ihr Unbehagen beim ersten Blick auf die Szenerie gleich nach der Ankunft. »Wieso glaubst du, ich würde das mögen?«
»Na ja, es sind im Grunde Trümmerfelder. Dein Metier.«
Sie überlegt, wie viel Sprengstoff es bräuchte, einen Vulkanausbruch künstlich zu erzeugen.
»Deprimiert es dich nicht, mit deiner Arbeit etwas zu zerstören, wofür andere hart gearbeitet haben?«
»Nein. Ich bin kein nostalgischer Mensch. Die Gebäude, die zur Sprengung freigegeben werden, haben ausgedient und stehen nur noch im Weg rum. Dann kommen wir und schaffen Platz für Neues.«
»Und wenn nichts Neues entsteht?«
»Dann ist eine grüne Wiese immer noch besser als eine Industriebrache. Ist meine Meinung.«
Er antwortet nicht. Liv trinkt ihren Kaffee.Er ist nicht einmal mehr lauwarm. Sie hat selten erlebt,dass ein brühend heißes Getränk so schnell erkaltet ist.
»Hast du ein Problem mit meinem Beruf?«, fragt sie, durch seine Bemerkungen verunsichert.
Er schüttelt den Kopf. »Überhaupt nicht. Eher mit meinem eigenen. Ich hätte direkt Lust zu tauschen. Daher die Fragerei, ich dachte, sobald ich einen Haken an der Sprengmeisterei finde, bin ich nicht mehr ganz so neidisch.«
»Ach ja? Und ich dachte, als Organist hättest du das große Los gezogen. Wo drückt es denn?«
»Beim Arbeitgeber. Ich repräsentiere die Kirche. Und ich glaube nicht an Gott.«
Liv betrachtet Rúnar von der Seite, um zu ergründen, ob er sie zum Narren hält. Er wirkt ziemlich ernst.
»Das ist natürlich bitter. Hast du nie an ihn geglaubt, oder ist dir dein Glaube unterwegs abhandengekommen?«
»Letzteres.Bis vor kurzem war mit mir und Gott noch alles in bester Ordnung.«
»Und was ist dann passiert?«
»Das willst du nicht wirklich wissen. Und ich will nicht darüber reden.«
Da irrt er sich gewaltig. Sie glüht vor Neugier, aber bedrängen mag sie ihn nicht.
»Wenigstens bist du als Protestant nicht vom Fegefeuer bedroht«, sagt sie leichthin.
»Da wäre ich mir nicht so sicher.« Er grinst sie an. »Komm, Liv, wir zwei Sünder müssen jetzt mal ein gutes Stück vorankommen in Richtung Hölle.«
Sie steigen ein, und die Fahrt geht weiter. Nach wenigen Minuten riecht es im Auto passenderweise wie in ihrer Dusche im Hotel, nämlich nach Schwefel, giftig, und als sie Rúnar darauf hinweist, zeigt er auf eine Stelle im Grau, wo der Nebel sich zu einem weißen Qualm verdichtet.
»Heiße Quellen.«
»Höllenfeuer.«
Sie tauschen verschwörerische Blicke aus, genau jetzt wäre es möglich, ihrer beider Laune durch weitere Albernheiten aufzuhellen. Doch sie lassen den Augenblick verstreichen und baden weiter in der Melancholie des Tages. Sie steht ihnen beiden gut zu Gesicht, bemerkt Liv. Sie auf der Suche. Rúnar in der Glaubenskrise. Beide nicht allzu zuversichtlich.Das scheint eine schlüssige Erklärung für die tiefe Verbundenheit zu sein, die sie von Anfang an gespürt hat und die ihr Rätsel aufgab. Zwei Menschen, von Auflösung bedroht, suchen und finden Halt aneinander. Unbewusst. Warum nicht?
»Du, eine gute Nachricht: Ich glaube, es geht auch ohne Gott«, sagt sie.
Rúnar atmet tief durch. »Und ohne deinen Opa?«
Dass er ohne Vorwarnung auf Tönges zu sprechen kommt, bringt Liv sofort in Rage, dennoch gelingt es ihr, mit einigermaßen neutraler Stimme zu antworten: »Wäre ich dann hier?«
»Das heißt also, es ginge nicht ohne ihn?«
»Nein.«
»Ach komm, das ist lächerlich. Er ist ein alter Mann, er wird vor dir sterben. Du musst damit klarkommen.«
Obwohl oder gerade weil er recht hat und sie weiß, wie unreif sie sich aufführt, ist Liv jetzt so wütend auf Rúnar, dass sie sich nur mit Mühe verkneifen kann, ihm den Rest ihres Kaffees ins Gesicht zu schütten.
Er blickt stur auf die Straße. »Wusstest du, dass Jähzorn erblich ist? Man kommt nicht dagegen an.«
Ankunft auf Fagrihvammur. Wie Rúnar zu berichten weiß, dekoriert sich in Island jedes Gehöft mit einem klangvollen Namen, unabhängig von Größe und Geltung. Fagrihvammur bedeutet so viel wie »schönes Grasland«. Ein zugiger Ort.
Auf den ersten Blick wirkt das Farmhaus gemütlich: weißer Putz, rotes Dach, rot gestrichen sind auch die Fensterrahmen, der Zaun und die Haustür, trotzige Farbtupfer inmitten bleierner Trostlosigkeit. Leuchtturmfarben. Es wäre eine gute Tür für Tönges Engel, um wieder auf der Bildfläche zu erscheinen, seiner würdig. Liv wünscht sich nichts sehnlicher. Die Intensität des Wünschens lässt sie den Atem anhalten. Rúnar lächelt ihr zu, bevor er aussteigt.
Noch bevor sie den Weg vom Auto zum Haus zurückgelegt haben, öffnet sich der rote Sesam – und auf der Schwelle erscheint eine hochbetagte Frau: gebrechlich, gebückt.
Liv gibt die Luft aus ihren Lungen frei.
Rúnar winkt und ruft der Alten eine Begrüßung zu, ohne eine Antwort zu erhalten, was ihn nicht zu überraschen scheint. Vielleicht hört sie nicht mehr gut, und er weiß das.
Liv erwägt ihren Rückzug. Was ihr zunächst nicht auffiel, nun sieht sie es überdeutlich: die Schäbigkeit des Wellblechs auf dem Dach, bei Nordwind müsste es reinregnen, die Risse in der Hauswand, den mürben Putz. Die schadhafte Regenrinne, die absteht wie ein gebrochener Finger, die drei ausgetretenen Stufen vor dem Eingang ... Spuren des Niedergangs überall. Schafscheiße im Vorgarten. Wäre Tönges hier, er hätte sich längst an die Arbeit gemacht.
Liv ruft sich ins Gedächtnis, es war nie die Rede davon, dass ihr Großvater sich an diesem Ort aufhalten könnte. Es geht lediglich um die Möglichkeit, hier etwas über Inga zu erfahren.
»Lass unbedingt mich reden«, flüstert Rúnar, bevor sie hineingehen.
Die alte Frau heißt Gudrun Reiser, das ist ihr deutscher Mädchenname. Sie ist achtundsiebzig, mindestens so alt sieht sie auch aus, eine gebückte Witwe mit eingefallenen Zügen, sie könnte genauso gut hundert sein. Sie bewirtschaftet Fagrihvammur mit dem ältesten ihrer vier Söhne. Der Hausherr, Ende fünfzig und Junggeselle laut Rúnar, lässt sich entschuldigen. Die Schafe sind wichtiger als ein Gast aus Deutschland.
Man nimmt in einem mehr als gut geheizten Wohnzimmer Platz. Liv, üblicherweise bereits mit Besuchen bei der eigenen Verwandtschaft überfordert, ist bemüht, in der hintersten Ecke eines mit Tierhaaren, Kekskrümeln und Flecken übersäten Polsters so wenig wie möglich aufzufallen, und überlässt die Gesprächsführung fürs Erste tatsächlich Rúnar, auch wenn es ihr einen Stich versetzte, von ihm dazu aufgefordert zu werden. Eine Anmaßung.
Bislang ist kein deutsches Wort gesprochen worden. Liv verliert sich in dem isländischen Singsang, registriert nebenbei, wie er in ihren Ohren immer liedhafter klingt, je länger sie zuhört. Eine introvertierte Sprache, eine Unterhaltung wie parallel geführte Selbstgespräche zweier Fremder, die es vermeiden, einander in die Augen zu sehen. Dann fällt der Name Inga Engel.
Schulterzucken.
Elektrisiert holt Liv die Zeichnungen ihres Großvaters hervor und legt sie auf den Couchtisch, den sich zwei Katzen mit einer Strickarbeit und mehreren Rollen Wollgarn teilen, worauf Rúnar sie anfährt, eine spontane Beschimpfung auf Isländisch, aber sie braucht keine Übersetzung: Ihre Einmischung zu diesem Zeitpunkt ist unerwünscht. Sein Blick, kalt und dunkel, schlitzt sie auf. Liv erwidert ihn und begreift, wenn Rúnar von Jähzorn und Vererbung schwadroniert, meint er nicht nur sie, sondern auch sich selbst.
Sie fahren fort, einander anzustarren, es ist ein ungleiches Duell, weil seine grün-schlammigen Augen mehr Macht über sie haben als umgekehrt. Die andere Möglichkeit: Er kann sich besser verstellen.
Gudrun Reiser murmelt etwas und verlässt den Raum, gibt ihnen so die Gelegenheit, ihre Unstimmigkeiten auszutragen.
»Was erlaubst du dir? Merkst du eigentlich noch was?«, eröffnet Liv.
»Das fragst du? Ich hab doch gesagt, überlass mir die Gesprächsführung. Was ist das?« Er greift sich die Zeichnungen und blättert sie durch. »Woher hast du die?«
»Das ist Inga Engel, gezeichnet von Tönges, so wie er sie sich heute vorstellt. Frau Reiser soll sie sich ansehen.«
»Davon hast du mir vorher nichts erzählt.«
»Na und? Was denkst du eigentlich, wer du bist?«
»Was denkst du, wer du bist?«
Pause. Im Hintergrund das Klappern von Geschirr aus der Küche. Das Mittagessen wird gerichtet.
Als Rúnar erneut das Wort ergreift, redet er wie zu einem dummen Kind: Sie verstehe nicht, worum es hier geht. Jedenfalls nicht nur um sie und Tönges,es sei kompliziert und ihr Besuch auf jeden Fall eine Belastung für die Gastgeberin. Man müsse behutsam vorgehen.
»Es sind doch nur Zeichnungen«, sagt Liv. »Porträts, weiter nichts.«
»Warte es ab.«
Livs Wunsch entsprechend begutachtet Gudrun Reiser die Bilder wenig später tatsächlich. Leider ohne Ergebnis.
»Die Frau habe ich nie gesehen«, sagt sie zu Liv gewandt in einwandfreiem Deutsch, um gleich darauf wieder ins Isländische zu wechseln und die Unterhaltung mit Rúnar fortzusetzen. Eine Geduldsprobe. Das hier ist kein fremdes Land mit einer unbekannten Sprache – es ist ein eigener Kosmos. Mit Liv als Alien.
Dieser Eindruck verstärkt sich beim Mittagessen. Rúnar und sie sind selbstverständlich eingeladen,Ablehnung undenkbar.Auch der Sohn nimmt teil, gibt aber, abgesehen von einer einsilbigen Begrüßung, kein Wort von sich. Das Schweigen am Tisch macht auf Liv den Eindruck eines lang erprobten Rituals: Man redet nicht, schaut nirgendwohin außer auf den eigenen Teller. Die Tischsitten rüde. Schmatzen ist erlaubt, Nase hochziehen ebenso.
Liv hört weg und arbeitet sich durch die Mahlzeit. Es gibt Lamm. Eine Art Eintopf, stark versalzen, von der Konsistenz wie Gummi, dazu Kartoffeln. Einmal rutscht Liv in ihrer Beklommenheit ein Stück Fleisch von der Gabel, woraufhin der Sohn es aufhebt und auf ihren Teller zurücklegt. Katzenhaare kleben daran. Damit hätte Liv zurechtkommen können, sie hat oft genug auf Baustellen gespeist, wo es selten keimfrei zugeht. Was ihr hingegen Brechreiz verursacht: die warme Milch, nicht erwärmt, sondern frisch von der Kuh, körperwarme Rohmilch, mit einem fettigen Film überzogen und mit dem Geruch nach Kuhstall behaftet. Liv hält das Glas in der Hand und weiß nicht, wie sie den Inhalt hinunterbekommen soll.
Gudrun Reiser beobachtet sie. »Ich weiß genau, was Sie denken, Mädchen, und eines kann ich Ihnen sagen: Man gewöhnt sich an alles. Manches lernt man sogar lieben.«
Liv hält das Glas.
»Trinken Sie Ihre Milch, die wird Ihnen guttun. Die ist besser als aus dem Supermarkt.« Diese lebendige Wärme. Der Sohn rülpst.
Gudrun Reiser unerbittlich: »Na los, trinken Sie schon.«
»Nein, danke.« Liv stellt die Milch ab. Sie will nicht unhöflich sein, aber es gibt Grenzen der Zumutbarkeit, auch für sie, obschon als Alien ins Haus eingedrungen. So sieht sie das zumindest.
»Als ich auf Fagrihvammur ankam, hielt ich mich auch für etwas Besseres, genau wie Sie.Aber damit kommt man hier nicht weit«, sagt Gudrun Reiser. »Ich wollte Rennfahrerin werden, können Sie sich das vorstellen?«
»Sicher.«
»Aber das Leben lässt uns keine Wahl. Den meisten von uns jedenfalls nicht.«
Liv zuckt mit den Schultern. Sie ist anderer Meinung und muss an Henny denken: Scheidung mit über siebzig.
»Als ich Deutschland verließ, sagte ich meiner Mutter nichts von meinen Plänen, kein einziges Wort. Ich ging morgens aus dem Haus und kam abends nicht zurück. So einfach war das damals. Bei der Botschaft gab ich ein falsches Alter an, ich war ja noch minderjährig. Da hat niemand nachgefragt.«
»Haben Sie Ihre Mutter wiedergesehen?«
»Nein. Ich habe sie gehasst.«
Der Sohn zieht die Nase hoch.
Liv gestattet sich ein Nachhaken aus purer Neugier: »Warum?«
Rúnar schüttelt den Kopf über sie.
»Warum, wollen Sie wissen? Warum? Was geht Sie das an?
Haben Sie nicht mit Ihren eigenen Leuten genug um die Ohren?«
Rúnar ist immer noch am Kopfschütteln. Liv, unzufrieden mit ihm und sich gleichermaßen, will die Frage zurückziehen, doch es ist zu spät, denn die Alte holt bereits weit aus, wappnet sich mit reichlich Atem für einen Monolog, der ganz sicher schon länger auf ihrer Zunge brannte, auch wenn sie das selbst nicht wahrhaben mag:»Meine Mutter hat meinen Vater auf dem Gewissen. Als die Nazis ihn für nicht arisch erklärten, weil sein Vater ein Zigeuner war, ließ sie sich scheiden.Abgeholt haben sie ihn. Zwangsarbeit im Bergwerk, das hat er nicht überlebt. Vorher ist er Rennen in Hamburg gefahren. Im Volkswagen.« Mitten im Reden steht sie auf und beginnt den Tisch abzuräumen. Liv hilft.
»Zwei Mal im Jahr musste ich zum Arzt,da wurde kontrolliert, ob ich normal entwickelt bin. Wegen des minderwertigen Blutes. Der Doktor hat sich immer einen Spaß daraus gemacht, mir Angst einzujagen. Hat mich vermessen und beglotzt und betatscht und mir Rechenaufgaben gestellt, die viel zu schwer für mich waren. Bis ich geweint habe. Gebettelt. Ich wusste ja, von seiner Unterschrift hängt alles ab. Ob ich auch abgeholt werde oder nicht. Verstehen Sie das? Abgeholt.«
Sofort gehen alle Blicke zum Fenster hinaus, als müsse man sich nach all den Jahren selbst hier am Ende der Welt weiterhin vor denjenigen fürchten, die in Deutschland für das Abholen zuständig waren.
Gudrun Reiser schüttet die Reste von den Tellern zurück in einen großen Topf auf dem Herd. »Ich wollte weg, nur weg nach dem Krieg. Wohin, war mir egal. Das ging uns fast allen so auf der Esja. Jede Frau hatte ihre Gründe. Lauter kleine und große Geheimnisse. Wir waren keine geborenen Landfrauen, wir wussten nichts von dem Dreck und dem Gestank und der Kälte. Ich kann mich nicht beklagen, es war kein schlechtes Leben hier. Deutschland habe ich nie vermisst. Und jetzt kommen Sie und rümpfen die Nase über meinen Haushalt und die Milch und wühlen alles wieder auf, die ganzen schlimmen Jahre. Schämen sollten Sie sich.«
Liv spürt, wie ihre Miene entgleist, einerseits weil sie sich, der Aufforderung entsprechend, tatsächlich schämt, gleichzeitig ist sie aber auch verärgert, denn schließlich hat sie sich nicht gewaltsam Zutritt in dieses Haus verschafft, ihr Besuch war als solcher angekündigt, es war klar, dass Fragen gestellt werden würden. Und eine dreckige Küche ist eine dreckige Küche. Liv sieht nicht, was das eine mit dem anderen zu tun haben soll. Will es nicht sehen.
Rúnar sagt etwas auf Isländisch. Er macht inzwischen einen reichlich betrübten Eindruck, obgleich man die Situation durchaus komisch finden könnte – mit ein wenig gutem Willen zumindest.
Liv greift sich das Milchglas, das als Beweismittel der Anklage auf dem Tisch stehengeblieben ist, und leert es in einem Zug. »Ich wollte Sie wirklich nicht beleidigen, Frau Reiser«, sagt sie anschließend. »Vergessen Sie meine Fragen. Und bitte entschuldigen Sie die Störung.«
Rückzug. Sofort. Ohne Gruß verlässt Liv erst die Küche, dann das Haus.
Aber wohin? Überall Wiesen, nichts als Wiesen im Trüben. Kälte, die nach winterfaulen Gräsern und Wasser riecht. Die Weite des Landes, unsichtbar wegen des Nebels und dabei allgegenwärtig, fordert Liv heraus, führt ihr die eigene Bedeutungslosigkeit vor, zugleich hat sie sich nie wichtiger genommen als in diesen Tagen auf der Suche nach Tönges – und vermutlich auch nach Identität.
Irgendwo in der Ferne rauscht ein Fluss, es könnten auch mehrere sein, ein Gewirr von Bächen, ineinanderfließend, ein Wasserfall womöglich. Plötzlich Licht über dem Nebel, es wird hell, geradezu gleißend, reißt aber nicht auf. Liv steht wie in einem Kokon und ist erfüllt von Sehnsucht, ohne zu wissen wonach.
Als Rúnar sie bald darauf sucht und findet, mühelos, obwohl die Sicht fehlt und sie nicht daran denkt, auf sein Rufen zu reagieren, ist sie auf Vorwürfe eingestellt.
»Ich weiß, ich hätte dich reden lassen sollen. Ich habe Frau Reiser falsch eingeschätzt. Das war blöd. Wahrscheinlich war es unrecht und sinnlos, sie überhaupt aufzusuchen.«
Endlich ein Hauch von Transparenz: Am Horizont, weit weg, zeichnen sich Umrisse von Bergen ab.
Rúnar nimmt ihre Hand. »Ist doch verständlich, dass du dich an jeden Strohhalm klammerst.«
So sieht er das also. Vermutlich zu Recht. Sie kann nichts dafür, denkt Liv: Das Licht macht meschugge.